Franz Kafka und Haruki Murakami

Ich glaube, es lebt kaum jemand, der Franz Kafka besser versteht als Haruki Murakami. Bedacht, Zweifel und unwägsame Hindernisse prägen die Geschichten beider Autoren. Ich glaube, durch den Schreibstil Murakamis können wir einen Schatten von Kafka schimmern sehen, der ganz frisch ist und nicht beladen mit hundert Jahren wissenschaftlicher Analyse. Nach der Lektüre Murakamis erscheint der doch so vertraute Kafka in neuem, fremden Licht.

Mit Murakami Kafka wiederentdecken

Ich erinnere mich heute noch mit Schrecken an die Schullektüre von Die Verwandlung. Aus heutiger Sicht ist mein endlose Grauen eher mit Der Prozeß vergleichbar. Die Analysen nahmen kein Ende, wir widmeten uns Woche um Woche Gregor Samsas Gebrechen. Jede psychologische Pointe wurde genauestens untersucht, beschrieben, aufgespießt und in den überquellenden und doch leeren Schmetterlingskasten der Erkenntnis gesteckt. Es waren hohle Erkenntnisse, die wir da sammelten und sie hinterließen in mir im Nachhinein nicht die Spur einer Erinnerung. Das Einzige, was blieb, war eine tiefe und und ehrliche Abneigung meiner Deutschlehrerin gegenüber und das Gefühl, eine große Chance verpasst zu haben.

Erst Jahre später nahm ich Murakamis Kafka am Strand in die Hand und begann zu lesen. Eher aus Langeweile, denn wirklich scharf war ich auf Kafka immer noch nicht. Doch ich war neugierig, wie sich ein Japaner der kulturellen Referenz namens Kafka bediente. Bald vergaß ich schon meine überintellektuellen Gedankenspiele, die durch Universität und Schule geprägt waren, und begann zu lesen. Richtig zu lesen, freudig zu lesen, auch das Unverständliche aufsaugend. Beim Lesen des Romans machte sich eine geistige Schwere in mir breit, die erst eine Woche später langsam abklang. Erst nach und nach wurde ich wieder sauer auf diese Lehrerin, die mir die Neugier geraubt hatte, je wieder Kafka zu lesen. Erst dank Murakami holte ich die verpasste Chance wieder auf. Man glaubt es kaum, doch ich wagte mich sogar wieder an Die Verwandlung.

Murakami und Kafka: Nichts für Ungeduldige

Wenn wir ehrlich sind, ist es verdammt anstrengend Kafka und Murakami zu lesen. Nicht unbedingt wegen der verwendeten Sprache, die tatsächlich eher einfach ist. Sondern wegen den mentalen Bildern, den Andeutungen, den tausendfachen Assoziationen, die sich auftun. Man muss selbst in den Kurzgeschichten bereit sein, leserisch zu schlendern und manchmal eine Pause zu machen um das gerade Gelesene sacken zu lassen. Die geistige Erschöpfung ist vergleichbar mit der Lektüre von Poesie. Leser, die hasten, die Sätze nur so verschlingen, die werden mit Murakami und Kafka nur bedingt glücklich. Vielleicht, das will ich den verehrten Schnelllesern zugestehen, finden sie sich auch einfach nur schneller als ich mit den undurchsichtigen Sprungschichten der Erzählungen zurecht.

Andererseits gibt es andere, die schnell lesen und erwarten, dass die Geschichte einen Sinn ergibt. Ein Happy End. Einen letzten Aha-Moment, bevor die Klappe fällt. Genau das verweigern die Geschichten von Murakami und Kafka; manchmal wird diese Verweigerung sogar so extrem stilisiert, dass es ans Sadistische grenzt. Wir haben dich gefangen, scheinen ihre Worte zu flüstern, und geben dich nicht mehr frei. Tage nach der Lektüre scheinen noch Wortfetzen durch den Kopf zu fliegen und zu höhnen, dass man am Ende doch nicht alles begriffen habe. Und dieser Genuss treibt uns dazu, das nächste Buch in die Hand zu nehmen.

Für die strenge Lektüre in der Schule, so lernte ich eigentlich zu spät, ist Kafka nichts. Die Geschichten Kafkas und Murakamis sind eher für die langen Schatten der Abendstunden gemacht. Es überrascht mich daher wenig, als Murakami im Interview mit der Zeit sagte:

Ich habe wenig Ahnung von Psychologie und von Freud, solche Sachen interessieren mich auch nicht. Psychologen interessieren sich für meine Geschichten, aber mir ist das egal. Wenn man versucht, eine Geschichte analytisch zu konstruieren, geht die Vitalität verloren. Was für mich zählt: Man muss beim Schreiben träumen. Ich kann sehr bewusst und absichtlich träumen. Wenn ich einen Traum sehen will, sehe ich ihn. Ich muss mich nur konzentrieren, und die Träume erscheinen mir, ich muss sie dann lediglich noch aufschreiben.