Hermann Hesse und der Steppenwolf in uns

Ich hielt das schmale Bändchen aus den sechziger Jahren abschätzend in der Hand. Mit sechzehn war ich auf einem Bücherflohmarkt und wägte genau ab, wofür ich mein knapp bemessenenes Taschengeld ausgeben wollte. Natürlich, es reichte nie. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch nie etwas von Hermann Hesse gelesen und auch der Titel „Steppenwolf“ sprach mich nicht wirklich an. Dunkel hatte ich die Vorstellung, dass es sich dabei um einen Abenteuerroman handeln könnte, der in der Tundra spielt.

Für einen oder zwei Euro nahm ich das Büchlein trotzdem mit, da ich mir das hehre und vergebliche Ziel gesetzt hatte, mir einen gewissen Literaturkanon anzulesen. Von Liebe auf den ersten Blick kann man wohl nicht sprechen.

Die erste Lektüre vom Steppenwolf

Mit unersättlicher Neugier und der gleichen Hartnäckigkeit, die mich mit fünfzehn „Die göttliche Komödie“ von Dante lesen ließ, machte ich mich ans Werk. Aus Pflichtgefühl wurde aber schnell brennende Neugier auf Geschehnisse um Harry Haller. Sofort wurde ich in die Geschichte gesogen, war darin gefangen und wollte nicht mehr auftauchen. Ich fühlte mich auf eine Weise verstanden, die ich noch nie erlebt hatte. Harrys Gedanken folgte ich peinlich ertappt, denn wie jede Jugendliche dachte ich, dass meine Weltsicht einmalig, neu und revolutionär sei. Menschen, die meinen wirren Gedankengängen nicht folgen konnten, betrachtete ich mit einer gewissen Geringschätzung. Im Steppenwolf fand ich meine Seele beschrieben. Ich hatte das Gefühl, dass Hermann Hesse mich besser kannte als meine eigene Familie.

Selbst den anstrengenden Tractatus verschlang ich als wäre es Nektar und Ambrosia. Jede Wendung in der Geschichte fand ich originell und schlüssig. Mir ist es nicht oft passiert, dass ich mich rückhaltlos und unreflektiert in die Begeisterung für eine Sache stürze, aber der Steppenwolf ist eine der großen Ausnahmen in meinem Leben. Ich war der Geschichte sogar so treu ergeben, dass ich wenige Monate später einen Tanzkurs anfing, um den Protagonisten näher zu sein. Bei einer der Tanzparties lernte ich sogar meine erste große Liebe kennen – Bücher wurden da für ein paar Monate zur Nebensache.

Nur für Verrückte! – Ansporn und Warnung

Ich war eine labile Jugendliche, gar keine Frage. Der Hormoncocktail in meinem Blut ließ mich mehr als einmal an meiner geistigen Gesundheit zweifeln. Dramatische Tagebucheinträge, versteckte Tränen hinter verschlossenen Türen und jede Menge schwarze Klamotten in der Öffentlichkeit waren die Folge.

Sehr anfällig war ich für den Gedanken, dass meine Persönlichkeit gar kein kohärentes Ganzes sei, sondern in Wahrheit aus vielen Teilsplittern bestehe, die ihr Eigenleben führen. Über Jahre hinweg rang ich mit dem Unbewussten, unzufrieden, dass ich nie lernte wirklich abzutauchen, wirklich verrückt zu werden oder eine schizophrene Ader in mir zu wecken. Mit dem Selbstbewusstsein von jemandem, der noch nie verloren hat, forderte ich mein Unterbewusstsein heraus. Je mehr ich es fassen wollte, desto mehr entzog es sich. Immer mehr Offenbarungen wollte ich aus meinem Unterbewusstsein ziehen – womit es freilich nicht immer einverstanden war. In einem nie vergessenen Traum schlug es schließlich zurück und zeigte mir meine Grenzen auf.

Der Traum kam nie wieder – das Buch lese ich aber heute noch gerne immer wieder